Einhörner erfreuen sich in der heutigen Popkultur großer Beliebtheit. Das Motiv des Pferdes mit dem Horn auf der Stirn schwankt dabei zwischen idyllischer Märchenwelt und kunterbuntem Kitsch. Tatsächlich blickt das Einhorn aber auf eine lange Kulturgeschichte zurück und durchstreifte dabei die Naturkunde, die Kunst und die Medizin.

Abb. 1: Marten de Vos, Einhorn, 1572, Öl auf Holz, 137 × 136,5 cm, Staatliches Museum, Schwerin, Inv. Nr. G 193
Soviel steht fest: Das Einhorn, wie wir es uns vorstellen, hat es nie gegeben.[1] In der Naturkunde kursieren aber seit der Antike Mythen über ein Wesen, auf dessen Stirn ein imposantes Horn wächst. Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) hatte das Einhorn als ein in Indien lebendes Hybridwesen beschrieben, das den Körper eines Pferdes, den Kopf eines Hirschs, die Füße eines Elefanten und den Schwanz eines Wildschweins habe und auf der Stirn ein Horn trage.[2] Von dieser Vorstellung war auch noch der Maler Marten de Vos im 16. Jahrhundert beeinflusst (Abb. 1).[3]

Abb. 2: Südliche Niederlande, Das Einhorn reinigt das Wasser, 1495–1505, Tapisserie, 368,3 x 378,5 cm, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 37.80.2

Abb. 3: Unbekannter Künstler, Zwei „Meereseinhörner“, 1590-1610, Öl auf Pergament, 405 x 295 mm, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Min. 129, fol. 13r
Mit dem beginnenden Fernhandel mit Asien im 13. Jahrhundert mehrten sich die Berichte von wundersamen, behörnten Geschöpfen. Marco Polo hatte Tiere beschrieben, die Elefanten ähnelten, aber nur ein einziges Horn trugen. Was er gesehen hatte, waren Nashörner. So kam es, dass das Rhinozeros mit dem Einhorn in der europäischen Vorstellung vermischt wurde.[6] Das, was gemeinhin als Horn des Fabelwesens gehandelt wurde, war in der Tat oft das Horn eines Rhinozeros. Im 16. Jahrhundert begann man die Existenz des behörnten Pferdes jedoch zunehmend in Frage zu stellen und vermutete den Ursprung des begehrten Horns im Meer. Und tatsächlich handelt es sich bei dem spiralförmig gedrehten Horn um den Stoßzahn eines Narwals. Wie die Vorstellung von „Meer-Einhörnern“ die Phantasie noch mehr beflügelte, zeigt diese Darstellung aus einem Tierbuch, das für Kaiser Rudolf II. (1552–1612) angefertigt wurde. Hier sind zwei Mischwesen zu sehen, die jeweils ein Horn auf der Stirn tragen: Ein Pferd mit dem Körper eines Fischs und ein robbenähnliches Tier (Abb. 3).[7]

Abb. 4: Tobias Stimmer, Die Tiere besteigen die Arche, Holzschnitt, aus: Biblia sacra veteris et novi testament, secundum editionem vulgatam, Basel 1578

Abb. 5: Von dem Einhorn, Holzschnitt, aus: Conrad Gessner, Thierbuch. Das ist Außführliche beschreibung und lebendige ja auch eigentliche Contrafractur … aller Vierfüssigen thieren, so auff der Erden und in Wassern wohnen, Heidelberg 1606
Obwohl die Existenz des weißen Pferdes mit dem langen Horn immer unwahrscheinlicher wurde, wollte man sich nicht vom Glauben an die beliebten Fabelwesen verabschieden. So versuchte man „logisch“ zu erklären, warum noch niemand ein Pferd mit einem Horn zu Gesicht bekommen hatte. Da das Einhorn das stolzeste aller Tiere gewesen sei, habe es sich geweigert, die von Noah gebaute Arche zu betreten – so zeigt es etwa Tobias Stimmer in seiner Illustration der biblischen Szene (Abb. 4). Das Einhorn sei in der Sintflut ertrunken, deshalb finde man nur noch sein Horn.[8] Conrad Gessner (1516–1565), der Begründer der modernen Zoologie, widmete sich diesem Tier noch ausführlich in seinen „Historiae animalium“, die erstmals zwischen 1551 und 1558 erschienen (Abb. 5).[9] Auch Gessner gab zu, dass niemand in Europa je solch ein Tier gesehen hatte, er lieferte aber dennoch eine detaillierte Beschreibung über dessen Aussehen, Lebensraum und Verhalten sowie über den medizinischen Nutzen des Horns. Erst der dänische Arzt und Archäologe Ole Worm (1588–1654) konnte nach einer Grönlandexpedition den Beweis erbringen, dass das Einhorn eigentlich ein Wal ist (Abb. 6). Pseudo-zoologische Beschreibungen wie die von Gessner hielten sich in der Naturlehre bis ins 18. Jahrhundert dennoch hartnäckig.[10]

Abb. 6: Die Sammlung des Ole Worm, Kupferstich, Titelblatt zu Museum Wormianum, Amsterdam 1655

Abb. 7: Jan Vermeyen und Miseroni-Werkstatt, Narwalhornbecher, 1600/05, Narwalhorn, Gold, Email, Diamanten, Rubine, Doppelkamee aus Achat, Elfenbein, 22,2 cm × 12,1 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr. Schatzkammer, WS XIV 2
Ganz gleich von welchem Tier das weiße, gedrehte Horn letztendlich stammte, man sagte ihm wundersame Heilkräfte nach. In Apotheken wurde es für viel Geld gehandelt. Wie auch anderen, nicht aus dem nördlichen Europa zu beziehenden Naturalien (z. B. die rote Koralle, der Bezoar oder das Rhinozeroshorn) schrieb man dem Einhorn die Eigenschaft zu, Gift aufspüren und unschädlich machen zu können, wie es bereits der „Physiologus“ beschrieben hatte. Es war aber auch ein begehrtes Mittel gegen die Pest und wurde als universelles Heilmittel eingesetzt. Pulverisiert wurde es in kleinsten Mengen verarbeitet.[11] Wer es sich leisten konnte, ließ Trinkgefäße aus einem Teil des Horns herstellen. Ein besonders kostbares Exemplar stammt aus der Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. (Abb. 7).[12]

Abb. 8: Das „Ainkhürn“, 1. Hälfte 16. Jahrhundert, 243 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr. Schatzkammer, WS XIV 2

Abb. 9: Andreas Osenbruck, Das Szepter (mit Reichskrone und Reichsapfel), 1615, Narwalzahn, Gold, teilweise emailliert, Diamanten, Rubine, Saphir, Perlen, 75,5 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr. Schatzkammer WS XIa 2
Das vermeintliche Horn des Einhorns war ein begehrtes, wenn auch sehr seltenes Sammelobjekt. Es war nur in wenigen weltlichen oder geistlichen Schatzkammern zu finden. In einer Abbildung von der Sammlung des bereits erwähnten Ole Worm, dem „Museum Wormianum“, ist ein Horn / Stoßzahn auf dem Regal an der Stirnwand zwischen kleinen Schachteln mit verschiedenen Metallen und Mineralien auszumachen. Ein Schädel mit Zahn lehnt neben dem Fenster (Abb. 6). Die Habsburger erklärten ihr Exemplar – ein imposanter Narwalzahn von 2,43 m Länge – zu einem der „unveräußerlichen Erbstücke des Hauses Habsburg“. Das sogenannte „Ainkhürn“ sollte stets im Besitz des ältesten Nachkommen verbleiben (Abb. 8). Auch der Schaft des Szepters, das 1615 als Teil der kaiserlichen Krönungsinsignien geschaffen wurde, besteht aus diesem Material (Abb. 9).

Abb. 10: Matthäus Merian d. Ä., Matthäus Merian d.Ä, In Corpore est Anima & Spiritus (Buch Lambspring), in: Johannes Rhenanus (Hg.), Dyas chymica tripartita, Frankfurt am Main 1625
In die Alchemie hielt das Einhorn mit dem „Buch Lambspring“ Einzug. Im dem alchemistischen Lehrgedicht wird ausgeführt, wie die flüchtigen Komponenten eines Stoffes, Geist (Spiritus) und Seele (Anima), vom festen Körper (Corpus) getrennt, geläutert und anschließend wieder zurückgeführt werden. 1625 erschien dieser Text zum ersten Mal in gedruckter Form.[13] Matthäus Merian d. Ä. hatte hierfür 17 allegorische und sehr einprägsame Bilder geschaffen. Geist und Seele erscheinen hier in Gestalt eines Einhorns und eines Hirschs (Abb. 10). Der Wald, in dem die Begegnung der beiden edlen Wesen stattfindet, symbolisiert den Körper: „Nun ists auch recht / daß der Der sie künstliche zu Zähmen weiß / Außm Wald zuführen / widrum drein treibn Daß sie beynander bleiben müssen (…)“ lauten die verrätselten Verse, die sich nur dem Alchemie-Kundigen erschließen. Übertragen auf die praktische Alchemie mag man hier die beiden alchemistischen Grundprinzipien Mercurius (Einhorn) und Sulphur (Hirsch) erkennen, die es im Laboratorium miteinander zu verbinden gilt.[14] Der Triumphzug des Einhorns in der Alchemie läutete zugleich seinen Rückzug aus der Zoologie ein – es kehrte in den Bereich der Mythen und Legenden zurück.[15]

Abb. 11: „Das letzte Einhorn“, aus dem gleichnamigen Zeichentrickfilm von Jules Bass und Arthur Rankin Jr. (1982)
Das Einhorn – Sagengestalt, Allheilmittel und Prestigeobjekt. Mit dem wundersamen Geschöpf, das eine erstaunliche Konstante in der westlichen Kultur bildet, sind eine Vielzahl von Erzählungen, Theorien und Praktiken verbunden. Wenngleich es heute in den Bereich der Populärkultur abgedriftet ist, hat es nichts an seiner allgemeinen Faszination verloren. So darf der Anime-Klassiker „Das letzte Einhorn“ (1982) in der Weihnachtszeit in keinem Fernsehprogramm fehlen (Abb. 11). Kein anderes (Fabel-) Tier kann von sich behaupten, sich in allen Zeiten neu erfunden und neue Märkte bedient zu haben. Seine Magie ist ungebrochen.
Anmerkungen
[2] Plinius d. Ä., Naturalis historia, VIII, 76, Kap. 31.
[3] https://www.landesmuseum-mv.de/exponate/maerten-de-vos-einhorn/
[4] Ein solches winziges Geschöpf stellte noch Raffael in seinem Bildnis von einer jungen Frau mit Einhorn dar, das auf die Tugendhaftigkeit der Porträtierten verweisen sollte: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Sanzio,_Raffaelo_-_Dama_con_Liocorno_-_1506.jpg (Abrufdatum: 29.01.2024).
[5] Cavallo 1998.
[6] Einhorn 1976, S. 169-174.
[7] Siehe hierzu: AK Innsbruck / Wien 2006, Kat Nr. 5.5, S. 249-251.
[8] Schönberger 1935/36, S. 209f.
[9] Hier wurde eine deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1606 konsultiert: Conrad Gessner: Thierbuch/ Das ist/ Außführliche beschreibung/ und lebendige ja auch eigentliche Contrafactur und Abmahlung aller Vierfüssigen thieren/ so auff der Erden und in Wassern wohnen: Sampt derselben Nutzbarkeit und güte/ so wol in essenspeiß und Küchen/ als in der Artzney und Apotecken; Allen Aertzten/ Weydleuthen/ Köchen/ ja auch den künstlichen Mahlern sehr dienstlich und nohtürfftig, Heidelberg 1606, fol. 35v-39r.
[10] Helas 2015, S. 97; AK Innsbruck / Wien 2006, Kat. Nr. 1.11, S. 31.
[11] Schönberger 1935/36, S. 212-216.
[12] Zu weiteren Objekten: Schönberger 1935/36, S. 216-233; Schönberger 1950/51.
[13] Der Text war Teil von: Johannes Rhenanus (Hg.), Dyas chymica tripartita, Frankfurt am Main 1625, S. 83-117. Siehe hierzu: Helas 2015, S. 101f.; Lehnert 2021.
[14] Völlnagel 2012, S. 177
[15] Helas 2015, S. 102.
Bibliographie
- AK Innsbruck / Wien 2006
- Wilfried Seipel (Hg.): Ausstellungskatalog. Die Entdeckung der Natur. Naturalien in den Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, Innsbruck (Schloss Ambras) und Wien (Kunsthistorisches Museum) 2006
- Cavallo 1998
- Adolph S. Cavallo: The Unicorn Tapestries at the Metropolitan Museum of Art, New York 1998
- Einhorn 1976
- Jürgen W. Einhorn: Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters, München 1976
- Helas 2015
- Philine Helas: Das Einhorn. Gefürchtet, gejagt, gezähmt und zerrieben, in: Peggy Große et al. (Hg.): Ausstellungskatalog. Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik, Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum) 2015, S. 91-103
- Lehnert 2021
- Katja Lehnert: Merian, Titelblatt Buch Lambspring, 1625, in: Bebilderung der Alchemie (2021 ff.), URL: <https://merian-alchemie.ub.uni-frankfurt.de/ausstellung/ii-alchemische-bildwelten/merian-titelblatt-buch-lambspring-1625/>
- Schönberger 1935/36
- Guido Schönberger: Narwal-Einhorn. Studien über einen seltenen Werkstoff, in: Städel Jahrbuch 9 (1935/36), S. 167-247
- Schönberger 1950/51
- Guido Schönberger: A Goblet of Unicorn Horn, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin 9,10 (1950/51), S. 284-288
- Shepard 1930
- Odell Shepard: The Lore of the Unicorn, New York 1930
- Roling / Weitbrecht 2023
- Bernd Roling und Julia Weibrecht: Das Einhorn. Geschichte einer Faszination, München 2023
- Völlnagel 2012
- Jörg Völlnagel: Alchemie. Die königliche Kunst, München 2012
- Wehrhahn-Strauch 1958
- Liselotte Wehrhahn-Strauch: Einhorn, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV (1958), Sp. 1504–1544; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=100338>
Abbildungsnachweis
Abb. 1: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1c/Maerten_de_Vos_-_Unicorn.jpg
Abb. 2: https://www.metmuseum.org/art/collection/search/467638
Abb. 3: Eva Irblich et al. : Le bestiaire de Rodolphe II. Cod. min. 129 et 130 de la Bibliothèque nationale d’Autriche, Paris 1990, S. 120-121, Tafel 12
Abb. 4: http://www.symbolforschung.ch/tiere%20in%20der%20bibel.html
Abb. 5: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11200269?page=78
Abb. 6: https://de.wikipedia.org/wiki/Olaus_Wormius#/media/Datei:1655_-_Frontispiece_of_Museum_Wormiani_Historia.jpg
Abb. 7: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0d/Kunsthistorisches_Museum_09_04_2013_Narwhal_goblet.jpg
Abb. 8 und 9: Foto: Corinna Gannon
Abb. 10: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/drucke/content/pageview/10980676?query=dyas%20chymica
Abb. 11: https://www.welt.de/vermischtes/article162308759/Das-letzte-Einhorn-zehn-Dinge-die-Erwachsene-lernen-koennen.html
Corinna Gannon, M.A., studierte Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und verfasste ihre Dissertation zu Kunst, Magie und Alchemie am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Aktuell ist sie wissenschaftliche Volontärin am Städel Museum in Frankfurt am Main.