Talismane, das sind im Volksmund kleine, glückbringende Gegenstände, die ihren Träger vor Unheil bewahren sollen. Diese oft als Aberglaube abgetane Tradition blickt auf eine lange Geschichte zurück, die sich durch alle Kulturen zieht.
[blockquote align=”right” cite=”Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim” italic=”yes”]«So gross ist die Macht und Kraft der Himmelskörper, dass nicht nur die natürlichen, sondern auch die künstlichen Dinge, wenn sie dem Einfluss der Gestirne auf gehörige Art ausgesetzt werden, plötzlich von dem mächtigen Agens und dem wunderbaren Leben, das den Himmelskörpern innewohnt, eine himmlische, oft Wunderbares wirkende Kraft erhalten (…)»[1][/blockquote]
Mit diesen Worten beschreibt der Universalgelehrte Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (Abb.1) die Wirkmacht von Talismanen in seinem vielzitierten Magiekompendium «De occulta philosophia» (1533), das das Magieverständnis des 16. Jahrhunderts massgeblich prägte.[2]
Abb. 1: Porträt des Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, 1597/99, Kupferstich, aus: Boissard, Jean-Jacques, Icones Quinquaginta virorum illustrium doctrina & eruditione, Frankfurt am Main 1597-1599
Der Begriff „Talisman“ entstammt dem griechischen Wort „telesma“, das wiederum ein Lehnwort des arabischen „tilsam“ ist.[3] Anders als ein Amulett, meist ein Objekt aus einem natürlichen, unbearbeiteten und scheinbar magische Kräfte enthaltenden Material, ist ein Talisman ein künstlich von Menschenhand gefertigter Gegenstand.[4] Das entsprechende Material, meist eine Metalllegierung, Wachs oder Lehm, muss zunächst unter Ausführung ritueller Handlungen oder unter Berücksichtigung planetarer Konstellationen hergestellt werden. In Form gebracht, häufig als Münze, kann das fertige Objekt mit magischen Zeichen, sogenannten „characteres“ beschriftet und in einer rituellen Zeremonie geweiht werden. Erst dann vermag es vor dämonischen Kräften und Krankheit zu schützen oder gar zu heilen.
Im 16. Jahrhundert war das Weltbild von Analogiedenken geprägt. Nur so ist auch der Glaube an die Wirkkraft von Talismanen zu verstehen. Man glaubte an eine untrennbare Verbindung zwischen Makro- und Mikrokosmos , zwischen Himmel und Erde, zwischen Oben und Unten. Alles schien mit allem in Verbindung zu stehen. Auf dieser Überzeugung fusste die Magia naturalis, die natürliche Magie, die zum Ziel hatte, sich diese Entsprechungen zu Nutzen zu machen und, basierend auf diesem Wissen, Gutes zu bewirken. Die elementarste Analogie in diesem kosmologischen Weltverständnis ist für die Herstellung von Talismanen die Entsprechung zwischen Planeten und Metallen. Man ging von sieben „Planeten“ aus, die sich jeweils besonders stark auf einem der sieben bekannten Metalle auswirken sollten: Saturn wurde dem Blei zugeordnet, Venus dem Kupfer, Jupiter dem Zinn, Merkur Quecksilber, Mars dem Eisen, der Mond dem Silber und die Sonne dem in der Hierarchie am höchsten stehenden Metall, dem Gold. Ja, auch Sonne und Mond galten zu jener Zeit als Planeten. Diese Septenare, Siebenerreihen, konnten durch weitere ergänzt werden, sodass jeder Planet zusätzlich über einem Wochentag, einer Tageszeit, einer Farbe, natürlichen Substanzen, aber auch über bestimmten Zeichen und Symbolen herrschte und auf diese Einfluss nehmen konnte.[5] Es erscheint nur konsequent, dass sich Eisen am besten am Dienstag (lat. „dies Martis“), am Tag des Mars, und Kupfer am Freitag (lat. „dies Veneris“), am Tag der Venus, verarbeiten liess, da die Wirkkraft der Planeten auf ihre Metalle an diesen Tagen besonders stark war. Zumindest in der Theorie liessen sich mit diesem Wissen wirkungsvolle Talismane herstellen.
Abb. 2 und 3: Zahlenquadrate des Jupiters und der Venus, aus: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, De Occulta Philosophia, 1533, Buch II, Kapitel 22, Köln 1533, S. CXLIX ff.
Bei der Fertigung von Talismanen spielen nicht nur die planetare Konstellation und das dem jeweiligen Planeten sympathische Material eine Rolle. Ebenso wichtig sind die Zeichen und Symbole, mit denen man sie schmückt. Bei Agrippa findet man „gewisse nach den sieben Planeten eingeteilte Zahlenquadrate“, die er auch „die heiligen Planetentafeln“[6] nennt (Abb. 2 und 3). Jedem der sieben Planeten wird ein magisches Zahlenquadrat zugewiesen, dessen Zahlenfolgen, ganz gleich ob horizontal oder vertikal addiert, stets denselben Wert ergeben.[7] Diese Quadrate seien besonders wirksam, da sie „sehr viele und grosse himmlische Kräfte besitzen, insofern sie jene göttlichen Zahlen [darstellen], Verhältnisse, die nach den Ideen des göttlichen Geistes durch die Weltseele in die himmlischen Dinge gelegt sind.“[8] Neben den sieben Quadraten – das kleinste, das des Saturn besteht aus 3×3 Zahlen, und das grösste, das des Merkurs aus 9×9 Zahlen – ergänzt Agrippa die Charaktere der Zeichen der Planeten, die als kraftvolles Symbol zusätzlich die Verbindung zwischen dem Gestirn und dem Objekt, das sie ziert, stärken sollen. Das wohl bekannteste Beispiel eines Planetenquadrats in der bildenden Kunst findet sich auf Albrecht Dürers Meisterstich „Melencolia I“ (1514) (Abb. 4).
Abb. 4 und 5 Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstich, 242 x 189 mm, Städel Museum, Graphische Sammlung, Frankfurt am Main
Über der Figur der Melancholie, an der Hauswand, umgeben von einer Sanduhr und einer Glocke, prangt ein aus 4×4 Ziffern bestehendes Zahlenquadrat (Abb. 5). Ein Blick in Agrippas Text verrät schnell, dass es sich um das (gespiegelte) Zahlenquadrat des Jupiter handelt (Abb. 2). Dieses Quadrat soll den negativen Einflüssen des Saturn, der für den Zustand der hier gezeigten Melancholie verantwortlich ist, positiv entgegenwirken.[9] Schützend ist es über den Kopf des in Lethargie und Missmut versunkenen Genius gesetzt. Nach Agrippa muss die Tafel des Jupiter in einer Zeit gefertigt werden, in der „Jupiter mächtig ist“. Das magische Quadrat soll in eine silberne Platte graviert werden und anschliessend „Gewinn, Reichtum, Huld und Liebe, Frieden und Eintracht“ bringen. Sticht man das Quadrat in Korallen, so löse es sogar „Verzauberungen.“[10] Aber nicht nur in Dürers Kupferstich findet sich ein magisches Quadrat. Beliebt waren derartige Darstellungen auch auf Talismanen. In handlicher Grösse und gewiss auch zu erschwinglicheren Preisen wurden sie im grossen Stil an den Mann gebracht, um einen Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen, bei der Heilung zu unterstützen oder überhaupt vor Erkrankung zu bewahren. Eines der zahlreichen Beispiele befindet sich im Pharmaziemuseum der Universität Basel (Abb. 6 und 7).
Abb. 6 und 7: Taler mit magischem Zahlenquadrat, Pharmaziemuseum Universität Basel, Inv. Nr. A87
Wieder lässt sich das hier gezeigte Quadrat mit Hilfe von Agrippas Magiekompendium leicht identifizieren (Abb. 3): es handelt sich um das 7×7-Zahlenquadrat des Planeten Venus. Umgeben ist es von kryptisch anmutenden Zeichen, die sich, zumindest teilweise, mit den von Agrippa aufgeführten Zeichen und „Intelligenzen“ des Planeten decken (Abb. 8-10)
Abb. 8: Die Charaktere der Venus
Abb. 9: Die Intelligenz der Venus
Abb. 10: Eine weitere Intelligenz der Venus
Agrippa beschreibt die Wirkung eines Talismans mit dem Venus-Quadrat wie folgt:
[blockquote align=”right” cite=”Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim” italic=”yes”]„Bei günstigem Stand der Venus auf eine silberne Platte gegraben, verschafft diese Tafel Eintracht, schlichtet Streitigkeiten, erwirkt ihrem Besitzer die Liebe der Frauen, befördert die Empfängnis, vertreibt die Unfruchtbarkeit, verleiht Kraft im Werke der Liebe, löst allen Zauber, stiftet Frieden zwischen Mann und Weib, erzeugt große Fruchtbarkeit unter den Tieren jeder Art (…). Auch ist sie gegen alle melancholischen Krankheiten dienlich, macht fröhlich, und verleiht bei sich getragen, eine glückliche Reise.“[11]
Nicht nur die physische Gesundheit vermag ein solcher Venus Talisman zu beeinflussen. Er wirkt sich auch auf das soziale Umfeld und Liebesleben seines Trägers aus. Kurzum: es handelt sich um eine Wunderwaffe, einen Garanten für ein glückliches und zufriedenes Leben. Dass solche Objekte regen Absatz gefunden haben, verwundert nicht. Der Blick auf die andere Seite der Münze lässt eine musizierende weibliche Gestalt erkennen, die von weiteren geheimnisvollen Zeichen, Symbolen und Worten umgeben ist. Ein kleiner geflügelter Putto ist im Begriff, einen Pfeil auf diese überproportional grosse Figur abzuschiessen (Abb. 7). Agrippa schweigt zu diesem Bild. Eine andere Autorität der Mediziner, Alchemisten und Magier des 16. Jahrhunderts, Paracelsus (Abb. 11), ein Zeitgenosse und somit auch Kenner Agrippas, kann hier zu besserem Verständnis beitragen. In den „Archidoxis magica,“[12] einem Corpus von Schriften, die vermutlich als Pseudo-Paracelsica zu werten sind, beschreibt der Autor die Herstellung von Planeten-Sigillen, münzenförmigen Talismanen. Anders als bei Agrippa ist das Material, aus dem der Venus-Talisman herzustellen ist, pures Kupfer, dem mit der Venus assoziierten Metall. Neben dem (zugegebenermassen stark abweichenden) Zahlenquadrat soll die andere Seite „ein Weibsbildt [zeigen], und bey ihr soll stehen ein Kindt mit einem Bogen und Fewrpfeil, in ihrer lincken Hand ein Harpffen (…) auf ihrem Haupt ein Stern, und der Nammen Venus.“[13]
Zweifellos war der Hersteller des Baseler Talismans von den Texten Agrippas und Paracelsus‘ sowie weiteren magischen Schriften beeinflusst, blickt man auf die zahlreichen kryptischen Zeichen und Symbole, die das „Weibsbildt“ mit Harfe umgeben. Die Münze ist eine Synthese verschiedener magischer Traditionen – vermutlich um beim potentiellen Käufer Eindruck zu schinden.
Abb. 11: Porträt des Paracelsus, 1597/99, Kupferstich, aus: Boissard, Jean-Jacques, Icones Quinquaginta virorum illustrium doctrina & eruditione, Frankfurt am Main 1597-1599
Bedenkt man den Herstellungsprozess solcher Talismane, so scheinen magische Praktiken und Kunsthandwerk Hand in Hand zu gehen. Vor allem in Hinblick auf den Dürerschen Kupferstich, wohnt der Produktion eines solchen auf den ersten Blick von Magie und Alchemie durchdrungenen Blatts[14] eine talismanische Dimension inne: das zu druckende Bild muss zunächst seitenverkehrt in eine Kupferplatte gegraben werden. Dürer schafft nicht nur einen zweidimensionalen Talisman, der dem Betrachter anschliessend visuell als Antidot gegen das melancholische Gemüt dienen soll, sondern vollzieht beim Gravieren der Kupferplatte auch haptisch die Entstehung eines Talismans nach.
Können Kunstwerke also als Talismane und Talismane als Kunst erachtet werden? Sind diese beiden Kategorien überhaupt voneinander zu trennen? Konsultiert man Paracelsus‘ Bildertraktat, den „Liber de imaginibus“ (erstmals 1572 gedruckt), so lässt sich letzteres verneinen. Dort begegnet ein erweiterter, der akademischen Kunsttheorie völlig fremder Bildbegriff. Als „Bild“ versteht Paracelsus klassische Kunstwerke wie Gemälde und Skulpturen, aber auch Naturgebilde und abstrakte „Bilder“, die durch die Kraft der Imagination, etwa in einem Traum, entstehen. Er gesteht all diesen Bildern eine Wirkmacht zu, sie können Abwesendes vergegenwärtigen, belehrend oder gar heilsam sein.[15] Ihnen allen wohnt eine talismanische Dimension inne. Dürers Meisterstich und die nach Agrippa und Paracelsus gefertigte Münze sind damit sowohl Kunstobjekt als auch Talisman. Es ist eben diese Doppelfunktion, das Oszillieren zwischen ästhetischem Bildwerk und instrumentellem Artefakt, die diese Objekte „wirken“ lässt.
Abbildungsnachweis
Abb. 1: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33212854
Abb. 2, 3: https://archive.org/details/DeOccultaPhilosophiaLoc1533/page/n163
Abb. 4,5: https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/melencolia-i-die-melancholie
Abb. 6, 7: Corinne Eichenberger
Abb. 11: http://www.portraitindex.de/documents/obj/34700995
- [1]Nettesheim, Heinrich Cornelius Agrippa von: De Occulta Philosophia, Buch II, Kapitel 35, zit. nach: Marco Frenschkowski (Hrsg.): Agrippa von Nettesheim. Die magischen Werke und weitere Renaissancetraktate, Wiesbaden 2008, S. 273.
- [2] Als Handschrift zirkulierte der Text bereits seit 1510.
- [3] Skemer, Don C.: Binding words. Textual amulets in the Middle Ages, University Park 2006, S. 6ff.
- [4] Weill-Parot, Nicolas: Les “images astrologiques” au Moyen Age et à la Renaissance. Spéculations intellectuelles et pratiques magiques (XIIe-XVe siècle), Paris und Genf 2002, S. 102.
- [5] Zu weiteren Beispielen siehe: Villiers, Elizabeth: Amulette und Talismane und andere geheime Dinge, Berlin, München und Wien 1927, S. 13f.
- [6] Agrippa, II, 22, zit. nach: Frenschkowski 2008 (wie Anm. 1), S. 238.
- [7] Siehe hierzu ausführlich: Nowotny, Karl Anton: The Construction of Certain Seals and Characters in the Work of Agrippa of Nettesheim, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 12 (1949), S. 46-57
- [8] Agrippa, II, 22, zit. nach: Frenschkowski 2008 (wie Anm. 1), S. 238.
- [9] Klibansky, Raymond; Panofsky, Erwin; Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1990, S. 459.
- [10] Agrippa, II, 22, zit. nach: Frenschkowski 2008 (wie Anm. 1), S. 239.
- [11] Ibid., S. 240.
- [12] Johannes Huser (Hrsg.): Husersche Quartausgabe. Medizinische und philosophische Schriften, Basel 1589-1591, Bd. 10, S. 131ff.
- [13] Ibid., S 136.
- [14] Zur alchemistischen Deutung von Dürers Stich siehe: Read, John: Dürer’s Melencolia. An Alchemical Interpretation, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 87 (1945), S. 283-284; Calvesi, Maurizio: La Melanconia di Albrecht Dürer, Turin 1993.
- [15] Siehe hierzu ausführlich: Möseneder, Karl: Paracelsus und die Bilder: über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter, Tübingen 2009, S. 4ff.
Corinna Gannon, M.A., studierte Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und verfasste ihre Dissertation zu Kunst, Magie und Alchemie am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Aktuell ist sie wissenschaftliche Volontärin am Städel Museum in Frankfurt am Main.