Der paracelsische Arzt und Alchemist Oswald Croll wurde 1560 im hessischen Wetter geboren.[1] Nach Studienaufenthalten in Marburg, Heidelberg, Straßburg und Genf sowie nach zahlreichen Reisen durch Deutschland, Frankreich, Italien, Ungarn und Polen ließ er sich in Böhmen nieder. Er war Leibarzt von Christian I. von Anhalt-Berneburg und zudem am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag tätig, dem wohl bedeutendsten Förderer der Alchemie in der Zeit um 1600.[2] Dort verfasste Croll sein berühmtestes Werk, die „Basilica Chymica“ (1609), eine medizinisch-alchemistische Schrift, die zusammen mit seinem Traktat „De signaturis internis rerum“ erschien.[3] Das opulente, von dem in kaiserlichen Diensten stehenden Kupferstecher Aegidius Sadeler gestaltete Titelblatt (Abb. 1) fasst Crolls Lehre visuell zusammen. Die Bildnisse von sechs alchemistischen Autoritäten – Hermes Trismegistos, Geber, Morienus, Roger Bacon, Raymundus Lullus und Paracelsus – rahmen zwei Diagramme ein, die das „Licht der Natur“ und das „Licht der Gnade“ symbolisieren und die Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos veranschaulichen. Auf dieser Analogie zwischen „oben“ und „unten“ sollten alle medizinischen, alchemistischen und naturmagischen Praktiken basieren.[4]
Abb. 1: Aegidius Sadeler, Titelkupfer zu Oswald Croll, Basilica Chymica, Frankfurt am Main, 1629
In der „Basilica Chymica“ beschreibt Croll auch ein Pestamulett, das er „Zenexton“ (Plural: „Zenechta“) nennt.[5] Bereits Paracelsus hatte in seinen „Zwey Büchern von der Pestilentz“ von einem derartigen Objekt berichtet, das „an halß gehennckt“[6] werden müsse, um die Pest fernzuhalten. Allerdings sind Crolls Ausführungen wesentlich ausführlicher – und kreativer. So entwirft er zwei verschiedene „Zenechta“: ein einfaches und recht schlicht gestaltetes „Zenexton“ (Abb. 2) und eines für „Reiche und Gewaltige“ (Abb. 3). Diese Amulette richten sich also an Personen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten.
Abb. 2 und 3: „Zenechta“ aus: Oswald Croll, Basilica Chymica, Frankfurt am Main 1923
Das erste „Zenexton“ besteht aus einem aus zahlreichen Ingredienzien zusammengemischten Teig. Für diesen benötige man ein Pulver aus 18 getrockneten Kröten, aus dem ersten Menstrualblut eines Mädchens, weißen kristallinen Arsenik, roten Arsenik oder Auripigment, Wurzeln von Diptam und Blutwurz (Tormentill), Perlen, Korallen, orientalischen Hyazinth, Smaragd, Safran, Bisam und Ambra sowie Traganth (gummiartiger, eingetrockneter Pflanzensaft), in Rosenwasser gelöst. Anschließend müsse dieser Teig mit einem Ring aus Stahl in die Form eines kleinen Küchleins gebracht werden und zu einem günstigen astrologischen Zeitpunkt beidseitig mit einem Siegelstempel, wie eine Münze, geprägt zu werden: Die eine Seite ziert eine Schlange, die andere ein Skorpion. An einer seidenen Schnur befestigt, müsse dieser geprägte Teig über dem Herzen getragen werden. Alternativ könne er auch in Herzform gebracht werden. Man müsse nur darauf achtgeben, dass er nicht die nackte Haut berühre.
Das zweite „Zenexton“ macht zusätzlich das Handwerk eines Goldschmieds erforderlich: Durch eine wie ein Medaillon zu öffnende Kapsel aus purem Gold habe eine kleine durchlöcherte Röhre zu verlaufen. Die Außenseite der Kapsel müsse ein Saphir zieren, der von vier kreuzförmig angeordneten „Kröten-“oder „Spinnensteinen“ umgeben sein soll. Man glaubte, dass im Kopf von Kröten Steine gefunden werden können, die heilende Kräfte haben und entgiftend auf den menschlichen Körper wirken.[7] Spinnensteine sollten wiederum entstehen, indem man eine Kreuzspinne einfing, diese sieben Jahre lang in einem Glas aufbewahrte, bis sie sich in einen Stein verwandelt hatte. Auch dieser sollte vor Gift schützen.[8] Die Rückseite des „Zenextons“ soll mit einem Hyazinth versehen sein. Ist diese Kapsel bereitet, wird ein weiterer Teig hergestellt, bestehend aus dem Pulver einer getrockneten Kröte und Essig. Diesen Teig fülle man in die goldene Kapsel. In das Röhrchen stopfe man ein in Menstrualblut getränktes Tuch. Durch die kleinen Löcher könne es mit dem Krötenteig in Verbindung treten, damit eine „Sympathia“ entstehe.
Abb. 4: Terra Sigillata-Pastillen aus Goldberg, Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern
Abb. 5: Verschiedene Motive für Terra Sigillata-Pastillen, aus: Christian Gottlieb Ludwig, Terrae Musei Regii Dresdensis, Leipzig, 1749, Tafel 1
Die Vorstellung von einem medizinisch zu verwendenden Teig hat Croll der Tradition der „Terra sigillata“ entlehnt. Hierbei handelt es sich um Heilerde, die zu Pastillen verarbeitet wurde. Diesen wurde anschließend ein Bild aufgeprägt, das über den Herkunftsort der Erde Aufschluss gab (Abb. 4. und 5).[9] Seit der Antike verwendete man diese heilenden Erden als universelle Arzneimittel, vor allem aber als Antidot. Gemäß der Apostelgeschichte erlitt der Heilige Paulus Schiffbruch und strandete auf der Insel Malta, wo er von einer Schlange gebissen wurde. Ihr Gift konnte ihm jedoch nichts anhaben und so entstand der Mythos, dass die dort gewonnene Erde („Terra melitea“), Bisse von Schlangen und anderer giftiger Tiere unschädlich machen soll[10] – daher wohl auch die Schlange und der Skorpion auf Crolls Prägestempel.
Abb. 6: Verschiedene Bisamäpfel, 1500–1600, London, Science Museum, Inv. Nr. A629434
Das zweite „Zenexton“, das kunstvoll gearbeitete Pestamulett für „Reiche und Gewaltige“, steht in der Tradition der sogenannten Bisamäpfel.[11] Auch hierbei handelt es sich primär um einen aus verschiedenen Ingredienzien zusammengesetzten Teig, den es in eine apfelförmige Kugel zu bringen gilt. Entscheidend ist der Duft, denn damit sollte die Pest ferngehalten werden. Gemäß früherer Auffassung verbreitete sich diese Krankheit über stinkende Ausdünstungen aus dem Boden, sogenannte Miasmen. Insofern versuchte man sich prophylaktisch mit möglichst wohlriechenden Substanzen zu umgeben. In seiner „Basilica chymica“ führt Croll ein Rezept für eine derartige Duftkugel auf, „Von dem Odifero, oder wolriechenden Artzney“, lautet dessen Überschrift:
„Nimbs Muscatblumen, Negelin [Nelken] und ausserlesenen Zimmet [Zimt], iedes 2. quintlin: Grawe Ambra 1. quintlin: Bisam ein halb quintlin: Zibeth 2. quintlin: Arabisch Gummi 1. quintlin: Tragacanth, so zuvor auff dem Ofen getrücknet 2. quintlin: Laß diese beyde mit dem Bisam stossen, alles fleissig gestossen mit dem Zibeth vermischen, giesse deß Aquae namphae [Wasser von der Bitterorange] oder deß wolriechenden Damacenischen so auß den specificierten wolriechenden Sachen und Rosenwasser bereitet, und in welchem ein wenig von deß Paracelsi Carbon oder Occidentalischen Zibet zuvor acht Tage in der Digestion vermischt worden, wie viel du wilt, hinzu: Dieses Wasser, nach dem es zuvor mit einer Baumwoll geläutert wirden, geuß so viel du zur incorporation der massae bedarffst, hinzu, rührs wol unter einander, wolriechende Kugeln oder Hertzsäcklin darauß zu formieren, und laß in einem Glaß ohne Digestion verhärten.“[12]
Vermögende Personen ließen für diese Duftkugeln filigrane Gehäuse anfertigen (Abb. 6). Wie ein Schmuckstück oder ein Amulett wurden sie an Ketten, manchmal aber auch an Rosenkränzen getragen, sodass sie auch als Statussymbol dienten. Vor allem der Maler Barthel Bruyn d. Ä. schuf zahlreiche Porträts, in denen die Dargestellten mit einem Bisamapfel zu sehen sind (Abb. 7 und 8).[13]
Abb. 7 und 8: Barthel Bruyn d. Ä., Porträt des Peter Heyman, ca. 1540–1545, Mischtechnik auf Eichenholz, 80,2 x 58,9 cm, Frankfurt am Main, Städel Museum, Inv. Nr. 968
Crolls „Zenechta“ sind eine kunstvolle Synthese aus verschiedenen medizinischen und naturmagischen Traditionen, Materialien und Objekten. Aus der sigillierten Heilerde macht er einen Talisman, indem er das Schlangen- und Skorpionbild in den Teig geprägt wissen will, „Wann nemblich die Sonn zusampt dem Mond in das Zeichen oder Hauß deß Skorpions hinein tretten“[14]. Der Bisamapfel wird hier ebenfalls zu einem magischen Amulett, indem er das Gehäuse mit Edelsteinen, sogenannten Gesundsteinen, sowie den dem Volksglauben entlehnten, tierischen Gesteinen versehen wissen will. Neben der Pest sollen diese kuriosen Artefakte auch vor Gift sowie vor „Astralische[n] Krankheiten“ bewahren.[15] Damit gibt Croll sowohl vermögenden als auch ärmeren Menschen eine medizinische „Wunderwaffe“ an die Hand, die, am Körper getragen, ultimativen Schutz bieten sollte.
Abbildungsnachweise
Abb. 1: https://de.wikipedia.org/wiki/Oswald_Croll#/media/Datei:Oswald_Croll_1629_Basilica_Chymica_Title_Page.tif (14.08.2022)
Abb. 2: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12666/224 (14.08.2022)
Abb. 3: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12666/227 (14.08.2022)
Abb. 4: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Terra_sigillata,_Germany,_1501-1700_Wellcome_L0058895.jpg (14.08.2022)
Abb. 5: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht?id=5363&tx_dlf%5Bid%5D=63113&tx_dlf%5Bpage%5D=329# (14.08.2022)
Abb. 6: https://collection.sciencemuseumgroup.org.uk (15.08.2022)
Abb. 7 und 8: https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/bildnis-des-peter-heyman (14.08.2022)
Literaturverzeichnis
Zu Croll: Kühlmann, Wilhelm: Oswald Crollius und seine Signaturenlehre. Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära Rudolphs II., in: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance, hg. von August Buck, Wiesbaden 1992, S. 103-124; Hausenblasová, Jaroslava: Oswald Croll and his Relation to the Bohemian Lands, in: Acta Comeniana 15/16, 2002, S. 169-182; Purš, Ivo: Oswald Croll und die Symbolik des Titelblatts seines Werkes Basilica Chymica, in: Studia Rudolphina 15, 2015, S. 64-87; Hausenblasová, Jaroslava: Between Medicine and Politics. Oswald Croll’s Activity in the Lands of the Bohemian Crown during the Reign of Rudolf II, in: Alchemy and Rudolf II. Exploring the secrets of nature in central Europe in the 16th and 17th centuries, hg. von Ivo Purš und Vladimír Karpenko, Prag 2016, S. 367-380. ↑
Purš, Ivo; Karpenko, Vladimír (Hg.): Alchemy and Rudolf II. Exploring the secrets of nature in central Europe in the 16th and 17th centuries, Prag 2016. ↑
Croll, Oswald: Basilica chymica. Continens philosophicam propria laborum experientia confirmatam descriptionem & usum remediorum chymicorum selectissimorum è lumine gratiae & naturae desumptorum. In fine additus est ejusdem autoris, Frankfurt am Main 1609; sowie die deutsche Ausgabe, aus der im Folgenden zitiert wird: Croll, Oswald: Basilica Chymica oder Alchymistische Königlich Klynod, Frankfurt am Main 1623. ↑
Purš 2015; Gannon, Corinna: Titelblatt Croll Basilica Chymica 1609 und 1623, in: Matthäus Merian d.Ä. und die Bebilderung der Alchemie um 1600. Virtuelle Ausstellung & Dynamische Wissensplattform, hg. von Berit Wagner, Frankfurt am Main 2021, o.S. ↑
Croll 1623, S. 210-215. Vgl. Baldwin, Martha R.: Toads and Plague. Amulet Therapy in Seventeenth-Century Medicine, in: Bulletin of the History of Medicine 67 (2), 1993, S. 227-247; Černý, Karel: Magical and Natural Amulets in Early Modern Plague Treatises, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 97 (1), 2013, S. 81-101. ↑
- Paracelsus: Zwey Bücher Theophrasti Paracelsi des erfarnesten Artzets, von der Pestilentz und jhren zufällen, Straßburg 1564, o.S. ↑
Krötenstein, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 5, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli, Berlin 1974, Sp. 631-634. ↑
Spinnenstein, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 8, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli, Berlin 1974, Sp. 285. ↑
- Dannenfeldt, K. H.: The introduction of a new sixteenth-century drug. Terra Silesiaca, in: Medical History 28 (2), 1984, S. 174–188; Graepel, Peter, Hartwig: Terra sigillata. Ein Universalheilmittel vergangener Jahrhunderte 36 (25), 1984, S. 29/213-34/218; MacGregor, Arthur: Medicinal terra sigillata. A historical, geographical and typological review, in: Geological Society London Special Publications 375 (1), 2013, S. 113-136. ↑
- Apostelgeschichte 28, 1-7; MacGregor 2013, S. 121. ↑
- Wentzel, Hans: Bisamapfel (Bisamknopf, Bisambüchse, Riechapfel) (RDK Labor. Reallexikon der Deutschen Kunstgeschichte (https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88755); Wis, Marjatta: Der Bisamapfel. Eine Frucht?, in: Neuphilologische Mitteilungen 73 (1/2), 1972, S. 485-492; Smollich, Renate: Der Bisamapfel in Kunst und Wissenschaft, Stuttgart 1983; Mohrmann, Ruth-Elisabeth: Zwischen Amulett und Talisman. Bisamäpfel als Standesabzeichen, in: Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, hg. von Gertrud Blaschitz, Graz 1992, S. 497-516. ↑
- Croll 1623, S. 168f. ↑
Westhoff-Krummacher, Hildegard: Barthel Bruyn der Ältere als Bildnismaler, München 1965. In folgenden Bildnissen sind Bisamäpfel zu erkennen: Kat. 9 und 10, S. 105f., Kat. 22, S. 114f., Kat. 34, S. 112f., Kat. 36, S. 124f., Kat. 55, S. 134-136, Kat. 60, S. 137-140, Kat. 62, S. 140f., Kat. 73, S. 149f., Kat. 80, S. 158, Kat. 82, S. 159, Kat. 84 und 85, S. 159f., Kat. 90, S. 162f., Kat. 112, S. 180f. ↑
Croll 1623, S. 211. Zu Talismanen: Gannon, Corinna: Von der Kunst der Talismane und Talismanen als Kunst (Aurorpharma (https://www.aurorapharma.com/blog/kunst-talismane). ↑
- Croll 1623, S. 213. ↑
Corinna Gannon, M.A., studierte Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und verfasste ihre Dissertation zu Kunst, Magie und Alchemie am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Aktuell ist sie wissenschaftliche Volontärin am Städel Museum in Frankfurt am Main.