Wir betreten einen spärlich beleuchteten Innenraum. Es dauert einen Moment bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Schemenhaft zeichnet sich auf der linken Seite ein großer Schrank ab, in dem diverse Glasflaschen und Phiolen stehen. An der gegenüberliegenden Wand steht ein massiver Holztisch, auf dem ein Sammelsurium weiterer gläserner Gefäße in verschiedenen Größen und Formen ausgebreitet ist. Befüllt sind sie mit unterschiedlich gefärbten Flüssigkeiten, beschriftet mit handgeschriebenen Schildchen, die wir aus der Ferne nicht entziffern können. Aus dem gläsernen Meer ragt ein Bunsenbrenner hervor. Wir wollen nähertreten, um das Farbenspiel genauer zu betrachten. Da tritt uns plötzlich ein Mann entgegen und versperrt uns den Zutritt zu diesem wundersamen Laboratorium. In der rechten Hand hält er ein mit einer roten Flüssigkeit befülltes Reagenzglas, in der linken eine Zange. Wir scheinen ihn bei der Arbeit unterbrochen zu haben. Er nimmt uns die Störung allerdings nicht übel. Mit seinen blauen Augen mustert er uns mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier.
Abb. 1: Johann Marx, Porträt des Paul Ehrlich, 1910, Frankfurt am Main, Historisches Museum Frankfurt (HMF.B.1956.01)
Wer ist der Mann, der uns, wie aus der Zeit gefallen, in diesem sonderbaren, wie ein modernes Alchemie-Laboratorium anmutenden Raum in Empfang nimmt (Abb. 1)?
Es ist der deutsche Immunologe Paul Ehrlich (1854-1915). Der Nobelpreisträger und Namensgeber des Instituts, das in Zeiten von Covid-19 als Prüfstelle von Impfstoffen in aller Munde ist,[1] gehört zu den bedeutendsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Der jüdisch-stämmige Sohn eines schlesischen Likörfabrikanten hatte sich von Jugendtagen an für die Chemie und vor allem für histologische Färbemethoden begeistert. Während seines Medizinstudiums baute er seine Kenntnisse auf diesem Gebiet weitgehend autodidaktisch aus. Auch nach Abschluss seiner medizinischen Ausbildung blieb er mehr Wissenschaftler als Arzt und war häufiger im Labor als am Krankenbett anzutreffen.[2] Ehrlich war ein Zeitgenosse und Kollege Robert Kochs (1843-1910), der mit der Entdeckung des Tuberkel-Bazillus den Weg zur Bekämpfung der Tuberkulose geebnet hatte, und Emil von Behrings (1854-1917), der erstmals ein Heilserum gegen Diphtherie entwickeln konnte. Die Medizin um 1900 hatte den großen Seuchen den Kampf angesagt.
Auch Paul Ehrlich zog in den Krieg gegen eine Krankheit, die für die Menschheit seit Jahrhunderten eine Geißel war: die Syphilis.[3] Kurz vor der Wende zum 16. Jahrhundert wurden in Europa erste Fälle einer neuen und verhängnisvollen Krankheit dokumentiert, die sich in Windeseile über den gesamten Kontinent ausbreitete. Die Betroffenen litten unter seltsamen Geschwüren, die am gesamten Körper auftraten und diesen stark entstellten. Über die Frage, woher diese Krankheit genau kam, wird bis heute gerätselt. Möglicherweise war sie von Seeleuten aus der Neuen Welt eingeschleppt worden. Da die Syphilis 1594 während der Italienkriege das erste Mal unter französischen Truppen aufgetreten war, bezeichneten die Italiener sie als „Franzosenkrankheit,“ die Franzosen wiederum als „italienische Krankheit.“
Abb. 2: Albrecht Dürer (zugeschrieben), Syphilitiker auf einem Flugblatt mit dem Lehrgedicht des Arztes Dietrich Ulsen (1496)
Schnell stand fest, dass sie über sexuelle Kontakte übertragen wurde und sich vor allem solche Menschen ansteckten, die ein „liederliches“ Leben führten. Die Syphilis erhielt daher auch die abwertenden Namen „Lustseuche“ oder „Krankheit der Venus.“ Die von der Venus Geküssten waren damit doppelt gestraft: Zum einen war ihnen ihr „Vergehen“ regelrecht ins Gesicht geschrieben, zum anderen wurden sie von der Gesellschaft geächtet. Einige wollten in der Erkrankung eine Strafe Gottes für eine unkeusche Lebensweise sehen. Andere sahen die Ursache in einer großen Konjunktion der Planeten Saturn und Jupiter im Zeichen des Skorpions und im Haus des Mars, die sich im Jahr des Ausbruchs der Seuche ereignet hatte.[4] Ein vielzitierter Holzschnitt, der Albrecht Dürer zugeschrieben wird, illustriert dies (Abb. 2): Die Arme und Beine eines an der Syphilis erkrankten Mannes sind von unschönen Beulen verunstaltet. Über ihm schwebt ein Zodiakus, der Tierkreis, in dem das Jahr 1484 wie ein böses Omen eingeschrieben ist.
Dieselbe Kreativität, die man beim Spekulieren über die Entstehung der Syphilis an den Tag legte, offenbarte sich auch bei der Suche nach Therapiemöglichkeiten. Ärzte, die sich der „Syphilitiker“ annahmen, waren rar. Betroffene fristeten meist ein erbärmliches Dasein am Rande der Gesellschaft und fielen oftmals Quacksalbern in die Hände. Bis ins frühe 20. Jahrhundert sollte es keine verlässliche Aussicht auf Heilung geben. Das Mittel der Wahl war lange das hochgiftige Quecksilber. Gemäß humoralpathologischer Vorstellungen, der Vier-Säfte-Lehre, sollte das flüchtige Metall den Überschuss des krankmachenden Schleims aus dem Blut entfernen. Großflächig rieb man die betroffenen Hautstellen mit quecksilberhaltigen Salben ein. Meistens richtete das Metall aber mehr Schaden an als es Abhilfe schaffte. Wenn die Patienten nicht nach jahrelangem Siechtum von der Syphilis dahingerafft wurden, starben sie an einer Schwermetallvergiftung. Ein weiteres ominöses Wundermittel war das sogenannte Guajak-Holz, das gewinnbringend aus der neuen Welt importiert und im großen Stil eingesetzt wurde. Tatsächlich war es wirkungslos.[5]
Abb. 3: Setletzky, Balthasar Sigmund: Porträt des Paracelsus (ca. 1730-1770)
Paracelsus (Abb. 3.) war es, der die Alchemie mit der Medizin verband. Als Arzt beschäftigte er sich eingehend mit der „Franzosenkrankheit“ und widmete ihr mehrere Schriften, etwa „Von der französischen Krankheit drei Bücher“ und „Von Ursprung und Herkommen der Franzosen samt der Recepten Heilung, acht Bücher“ (beide 1529).[6] Er sprach sich vehement gegen den Gebrauch des amerikanischen Wunderholzes aus und hielt an der Therapie mit Quecksilber fest. Allerdings hatte er erkannt, dass man das Metall geringer dosiert verabreichen müsse, ganz nach dem Motto: „Die Dosis macht das Gift.“[7]
Auch wenn man im 16. Jahrhundert noch weit davon entfernt war, sollte es letztendlich die Chemie sein, die den Kampf gegen die Syphilis zugunsten der Menschheit entschied.[8] Einen Meilenstein stellte die Entdeckung des Erregers der Krankheit (Treponema pallidum) durch Fritz Schaudinn und Erich Hoffmann im Jahr 1905 dar. Kurz darauf wurde Paul Ehrlich in Frankfurt am Main Direktor des „Georg-Speyer-Hauses,“ dem ersten Forschungsinstitut für Chemotherapie, und begann mit der systematischen Suche nach einem Heilmittel. Ehrlich hatte eine Theorie, die er auf verschiedene immunologische Forschungsfragen anwandte. Mit der sogenannten „Seitenketten-Theorie“ erklärte er auch Laien, wie eine Immunantwort vonstattenging: Körperzellen verfügen über „Seitenketten“, d.h. Rezeptoren. Wenn Krankheitserreger in den Organismus eindringen, versuchen sie, an diese anzudocken. Die Zelle bildet während der Immunisierung einen Überschuss an Rezeptoren, die Antikörper, die ins Blut abgegeben werden. Diese freibeweglichen Antikörper können sich dann mit Erregern verbinden, bevor sie die Körperzelle überhaupt erreichen und schädigen können. Bei Krankheiten wie der Syphilis funktionierte dieser Vorgang allerdings nicht von selbst. Daher galt es, künstlich, d.h. chemisch, in diesen Prozess einzugreifen. Ehrlich prägte hierfür den Begriff der „Zauberkugel“. Er setzte es sich zum Ziel, eine chemisch synthetisierte „Zauberkugel“ zu finden, die den Syphiliserreger, und zwar ausschließlich diesen, ausschaltete, bevor er im Körper Schaden anrichten konnte. Mit dieser „Zauberkugel“ wollte er sozusagen „chemisch zielen.“[9]
Abb. 4: Eine Glasampulle mit Salvarsan
Neben dem Quecksilber sollte sich ein nicht weniger giftiger Stoff als vielversprechend in der Syphilistherapie erweisen: Arsen. Man hatte beobachtet, dass sich bestimmte Arsenverbindungen wirksam gegen die Erreger der sogenannten Schlafkrankheit zeigten. Ehrlich wollte diese Erkenntnis auf die Suche nach einem Therapeutikum gegen die Syphilis übertragen und hatte daraufhin im Labor und in Tierversuchen begonnen, mit verschiedenen Änderungen an diesen Arsenverbindungen zu experimentieren. Die Substanz 606 erwies sich schließlich als Volltreffer. Die Zauberkugel war gefunden. 1910 konnte erstmals ein wirksames Mittel gegen die „Lustseuche“ auf den Markt gebracht werden, das den klingenden Namen „Salvarsan“ – heilendes Arsen – erhielt (Abb. 4).[10] Ehrlich war es damit gelungen, den Weg zur Bekämpfung einer seit Jahrhunderten die Menschheit in Atem haltenden Seuche zu ebnen.
Abb. 5: Historische Fotografie von Paul Ehrlich in seinem Labor (1910)
Die meisten zeitgenössischen Fotografien und Porträt-Gemälde zeigen Paul Ehrlich an seiner Arbeitsstätte, in seinem Labor oder seinem Büro, umgeben von Büchern, Dokumenten, Reagenzgläsern, Glaskolben und anderen Gerätschaften (Abb. 5). Diese visuellen Zeugnisse prägten damit das Bild des Mannes, der mit seinen „Zauberkugeln“, den gelblichen Pulvern der „Salvarsan“-Reihe, die Menschheit von einem großen Übel befreite. In der Tat steht diese Art der Inszenierung in der Tradition der Porträts von Wissenschaftlern, vor allem aber der Alchemisten, die in gewisser Weise als Ahnherren von Ehrlichs Metier erachtet werden müssen. Vor allem in der Genremalerei des 17. Jahrhunderts hatte das Motiv des laborierenden Alchemisten Konjunktur, nicht ohne dabei einen kritischen Blick auf die „Große Kunst“ zu werfen.[11]
Abb. 6: David Teniers d. J., Ein Alchimist (1680), München, Alte Pinakothek
Ein Selbstporträt des niederländischen Künstlers David Teniers d. J. (1680), in dem er sich als Alchemist inszeniert, bietet sich hier besonders zum Vergleich an (Abb. 6). Auch er ist halbfigurig in einem Laboratorium dargestellt. Im Bildhintergrund gibt ein beiseitegeschobener Vorhang den Blick auf eine Werkstatt frei, in der an diversen Gerätschaften eifrig laboriert wird. Der Alchemist präsentiert dem Betrachter, wie auch Ehrlich im Porträt von Johann Marx, eine kleine gläserne Phiole. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand – und auch hier lässt das Gemälde an das Bildnis Ehrlichs denken – umfasst er einen Zwicker, den Vorläufer einer Brille. Ehrlichs Brille mit den runden Gläsern gehörte neben der Zigarre zu seinem Markenzeichen. Auf dem Tisch vor Teniers Alchemist liegen ein aufgeschlagenes Buch und goldene Münzen, die auf seine Bildung und den damit verdienten Wohlstand anspielen.
Abb. 7: Blick in ein Labor aus Ehrlichs Zeit im „Georg-Speyer-Haus,“ Frankfurt am Main
In der Tat muss von Ehrlichs manchmal geheimnisvoll anmutender Labortätigkeit auf Außenstehende ein Hauch Alchemie vergangener Jahrhunderte ausgegangen sein. Seine Sekretärin und spätere Biografin, Martha Marquard, zeichnet folgendes Bild von seinem Schaffen:
„Reagenzglas um Reagenzglas wird aus dem kleinen Kästchen neben dem Bunsenbrenner entnommen, Spuren verschiedener Präparate hineingebracht, gelöst, gekocht, Säuren und Alkalien zugesetzt; bald ergibt sich eine schön blauviolette Flüssigkeit, bald ist sie leuchtend rot, bald grün, bald orange.“[12]
Das Institut, an dem Ehrlich seine „Zauberkugel“ und damit seinen persönlichen „Stein der Weisen“ herstellte, existiert bis heute (Abb. 7). Ein Labor mit großen Tisch und reich befüllten Schränken hat im Original ein Jahrhundert und zwei Weltkriege überdauert. Im „Georg-Speyer-Haus“ lebt der Geist des großen Wissenschaftlers noch heute. Betritt man den Raum, so scheint es, als habe Ehrlich ihn nur für einen kurzen Moment verlassen, um sich sogleich wieder an die Arbeit und auf die Suche nach weiteren „Zauberkugeln“ zu machen.
Abbildungsnachweis
Abb. 1: Historisches Museum Frankfurt, Fotograf: Horst Ziegenfusz
Abb. 2: Quelle
Abb. 3: Quelle
Abb. 4: Quelle
Abb. 5: Quelle
Abb. 6: Quelle
Abb. 7: Quelle
Quellenverzeichnis
[1] https://www.pei.de/DE/home/home-node.html;jsessionid=423B994A738A9206DBFB7D57727E55B1.intranet241 (01.08.21).
[2] Zu Paul Ehrlichs Leben und Werk: Marquardt, Martha: Paul Ehrlich, Berlin u.a. 1951; Bäumler, Ernst: Paul Ehrlich. Forscher für das Leben, Frankfurt am Main 1997; Hüntelmann, Axel C.: Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011.
[3] Zur Geschichte der Syphilis siehe beispielsweise: Bloch, Iwan: Der Ursprung der Syphilis. Eine medizinische und kulturgeschichtliche Untersuchung, Jena 1901; Bloch, Iwan: Das erste Auftreten der Syphilis (Lustseuche) in der europäischen Kulturwelt. Gewürdigt in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, dargestellt nach Anfang, Verlauf und voraussichtlichem Ende, Jena 1904; Quétel, Claude: History of syphilis, Baltimore 1992; Bäumler, Ernst: Amors vergifteter Pfeil. Kulturgeschichte einer verschwiegenen Krankheit, Frankfurt am Main 1997.
[4] Bloch 1901, S. 25f.
[5] Weimann, Karl-Heinz: Paracelsus und Kardinal Matthäus Lang als Gegner im Guajak-Streit, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften 45 (3) 1961, S. 193-200.
[6] Sudhoff, Karl (Hg.): Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus. Sämtliche Werke. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Bd. 7: Die Nürnberger Syphilisschriften und anderes Nürnberger Schriftwerk aus dem Jahre 1529, München 1923; Achelis, Johann Daniel: Über die Syphilisschriften Theophrastus von Hohenheim. Die Pathologie der Syphilis, Heidelberg 1938; Pagel, Walter: Paracelsus. An introd. to philosophical medicine in the era of the Renaissance, Basel, München usw. 1982, S. 23f.
[7] Das vollständige Zitat lautet: „Was ist das nit Gifft ist? alle ding sind Gifft, und nichts ohn Gifft, allein die Dosis macht, dz ein ding kein Gifft ist.“ Zit. nach: Huser, Johannes (Hg.): Husersche Quartausgabe. Bd. 2: Dieser Theil begreifft fürnemlich die Schrifften, inn denen die Fundamenta angezeigt werde[n], auff welchen die Kunst der rechten Artzney stehe, und auß was Büchern dieselbe gelehrnet werde, Basel 1589, S. 170.
[8] Hajdu, Steven I.: A Note from History. Two Pioneering Chemists,Three Hundred Years Apart, in: Annals of Clinical & Laboratory Science 35 2005, S. 105-108.
[9] Zit. nach: Hüntelmann 2011, S. 166.
[10] Schon zwei Jahre später folgte mit “Neosalvarsan” ein verbessertes Folgepräparat.
Siehe auch: https://sharedhistoryproject.org/object/salvarsan-ampules (07.08.2021).
[11] Zum Alchemisten der Genremalerei siehe beispielsweise: Principe, Lawrence M.: Orte des Wunders und des Verderbens. Alchemielaboratorien in Darstellungen der Frühen Neuzeit, in: AK: Kunst und Alchemie. Das Geheimnis der Verwandlung, hg. von Sven Dupré, Düsseldorf (Kunstpalast) 2014, S. 60-81; Berry Drago, Elisabeth: Painted Alchemists. Early Modern Artistry and Experiment in the Work of Thomas Wijck, Amsterdam 2018.
[12] Marquardt, Martha: Paul Ehrlich als Mensch und Arbeiter. Erinnerungen aus dreizehn Jahren seines Lebens (1902-1915), Stuttgart 1924, S. 64f., zit. nach: Hüntelmann 2011, S. 232.
Corinna Gannon, M.A., studierte Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und verfasste ihre Dissertation zu Kunst, Magie und Alchemie am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Aktuell ist sie wissenschaftliche Volontärin am Städel Museum in Frankfurt am Main.